Gießübel

Terrassen in Extremlage

Gießübel (…) Kirchdorf, im obern engen Grunde der Neubrunn und am Einflusse des Rehbachs und Tosbachs (Dachsbach) in die Neubrunn , zwischen hohen Bergen (Sommerberg, Querenberg, Löffelberg, Holzberg), größtentheils längs des Thals gekrümmt und zweizeilig, …, hat 7 Gemeindegebäude, 95 Wohn- und 8 Werkhäuser, 163 Fa,., 787 Einw., 337 St. Vieh (178 R., 113 Z., 41 Schw., 4 Pf., 1 Schf). Der Ort ein Langdorf, aus einer langgezogenen gebogenen Hauptstraße und einigen Nebengassen bestehend und sanft ansteigend gebaut, enthält mehr gewöhnliche als stattliche Waldhäuser. … Das Dorf ist bezüglich der Größe und Güte der Flur ein sehr übervölkerter Ort. Landwirthschaft ist zwar vorherrschend, indeß wenig ergiebig und nur auf geringtragenden Sommerbau, auf Kartoffeln und Flachs und auf Viehzucht (nicht ausreichend guter Wieswachs) beschränkt. Es bestehen hier außer den Localhandwerkern mehrere Gewerbe, namentlich  gegen 30 Büttner, 6 Nagelschmiede, 2 Hutmacher und einige Wagner, auch Holzhändler mit Felgen, Span- und Kummetshölzern; zudem wird von ca. 60 Personen ein starker Holzhandel getrieben, der besonders die flüssig-weiße Hefe aus Thüringen nach Franken liefert und den Rest des ehemals privilegirt hennebergischen Hefenhandels bildet. Die Einwohner sind zwar sehr thätig, doch luxussinnig, aufs Trinken und Schnorpskarten  begiert, von stolzer Denkart, streitlustig und mittelmäßig kirchlich. 1/30 derselben vermögend, 19/30  ziemliche Mittelleute und 10/30 arm und verschuldet. Im und vor dem Ort sind 2 eingängige Mahlmühlen (obere und untere) und 2 Schneidmühlen. … Von hier aus [am Tannenglasbachskopf, d. Verf.] werden, wie in den obern Schleusegründen, die Klafterhölzer aus den herrschaftlichen Waldungen in das Wasser zur Flöße gebracht" *

Gießübel liegt in einer Höhe von 500-680 m im Landkreis Hildburghausen etwa 16 km nordöstlich von Schleusingen. Seit 1994 gehört Gießübel zur Gemeinde Schleusegrund. 442 Einwohner (2022) leben hier in einer typischen Talsiedlung entlang der Neubrunn und ihrer Nebenbäche Rehbach und Dachsbach, die zum Flusssystem der Schleuse gehören. Der Ort bietet eine der eindrucksvollsten Terrassenlandschaften Thüringens.

„Gießübel liegt am Südhang des Thüringer Waldes in unmittelbarer Nähe des sagenumwobenen Rennsteigs.“

Mit diesen beiden werbewirksamen geographischen Namen wirbt der staatlich anerkannte Erholungsort auf dem touristischen Reiseportal www.thueringen.info um seine Feriengäste. Auch wenn die Zuordnung zum Thüringer Wald aus geologischer Sicht nicht ganz richtig ist – der Ort liegt naturräumlich im Grenzbereich zum Thüringer Schiefergebirge – so entspricht seine landschaftliche Einbettung doch ganz dem Klischee vom Thüringer Wald. Bergzüge mit weitläufigen Fichten- und Mischwäldern wechseln mit tief eingeschnittenen Tälern, dazu kommen Bergwiesen mit weiten Ausblicken: Das ist nicht nur das Markenzeichen des Thüringer Waldes, es erinnerte Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts wohl auch stark an die Sehnsuchtslandschaften der Schweiz. Gießübel kann mit seiner eigenen „Schweiz“ werben. Die „Gießübler Schweiz“ – eine von 14 (!) Schweizen in Thüringen – steht für markante Aussichtsfelsen aus dunklem Konglomeratgestein, die seit vielen Jahrzehnten ein beliebtes Wanderziel darstellen.

Und was den Rennsteig betrifft: Der bekannte Fernwanderweg zieht nur 30 Wanderminuten entfernt nordöstlich an Gießübel vorbei. 95 km sind es von dort bis zum Anfangspunkt Hörschel bei Eisenach und 74 km bis Blankenstein a. d. Saale, wo der Rennsteig offiziell endet.

Die DTK25 im Maßstab 1 : 25 000 ist eine auf ein 25.000stel verkleinerte und dabei vereinfachte zweidimensionale Darstellung der aktuellen Landschaft. Zu erkennen sind die groben Geländeformen („Makrorelief“), beschrieben durch die Höhenlinien, die Vegetationsbedeckung (Wald, Wiesen etc.), das Gewässernetz, die Gebäude, das Straßen- und Wegesystem und die Verwaltungsgrenzen.

Deutlich tritt die markante Tallage von Gießübel hervor. Drei tief eingeschnittene und steilhängige Kerbtäler laufen hier zusammen und lassen nur wenig Raum für die Ortslage mit ihren Gebäuden, Straßen und den wenigen Garten- und Wiesengrundstücken. Von Süden kommt der Dachsbach, von Osten der Rehbach. Beide vereinigen sich im Ort mit der Neubrunn, die zum Flusssystem der Schleuse gehört. Man beachte im Norden die „Talsperre“ Gießübel, einen alten Floßteich. Wald ist auf der Karte dunkelgrün, Wiesen sind hell und das Ferienhausgelände auf dem Löffelberg blaugrün dargestellt. Die Terrassenlandschaft ist wegen der Vereinfachung (Generalisierung) auf der Karte nicht wiedergegeben, wohl aber finden sich die Flurnamen Sommerberg, Querenberg, Löffelberg und Holzberg.

Der merkwürdige, dem heutigen Sprachschatz nur schwer zugängliche Name „Gießübel“, auch „Giessübel“ oder „Gießhuebel“, spricht für ein recht hohes Alter des Ortes.  Die Silben „Gieß-“ und „Gies“ sind wohl aus dem Mittelhochdeutschen „giozan” „gießen, strömen“ abzuleiten. *
Zusammen mit der zweiten Silbe („-huebel“ = „Hügel“) weist der Ortsname also auf einen Hügel hin, „dessen Erdreich durch Gießbäche oder durch Regen abgeschwemmt ist“. Nach Jürgen Udolph (Thüringer Ortsnamenregister des MDR) könnte die zweite Silbe aber auch von ahd. „-ubil“ oder mhd. „-übel“ = „übel, schlimm“ abgeleitet werden. * Beides bedeutet in der Summe aber das Gleiche: „da, wo Land überschwemmt, überflutet wird“. Da es gut 20 verschiedene Orts- und Flurnamen in Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg, Böhmen, Mähren und Niederösterreich gibt, die „Gießübel“, auch „Giessübel“, „Gießhübel“ u. ä. hießen oder zum Teil auch noch heißen, scheint mit dem Ortsnamen ein allgemein weitverbreitetes Naturphänomen ausgedrückt worden zu sein, nämlich die Gefährdung durch Starkregen und Hochwasser. Im Zusammenhang mit der engen Tallage und den steil aufragenden Bergen erscheint diese Ableitung durchaus plausibel und wird auch durch die historischen Erfahrungen belegt.

Das Historische Messtischblatt (Originalmaßstab 1 : 25.000) zeigt den Landschaftszustand vor rund 100 Jahren. Im Unterschied zur aktuellen DTK25 sind die Terrassen hier in generalisierter, vereinfachter Form dargestellt, d. h. es finden sich die typischen Böschungssignaturen, allerdings keineswegs vollzählig und auch nur bedingt lagegenau. Mit anderen Worten: Die Terrassen sind nur grundrissähnlich wiedergegeben.

Charakteristisch ist die enge Tallage, die nur Platz für den mäandrierenden Bach, die Straßen und die Häuserzeilen zulässt. Der Talboden wird von einigen wenigen Gärten (Schrägschraffur) und kleinen Wiesenflächen eingenommen. Ackernutzung scheiterte in der Talaue am Platzmangel und an der Überschwemmungsgefahr. Wie Inseln liegen die terrassierten Hänge inmitten dichter Bestände aus Nadel-, Laub- und Mischwald (überwiegend Fichten und Buchen). Deutlich zu erkennen ist auch, dass die Terrassen noch überwiegend als Ackerland und nur zum geringen Teil als Grünland (Doppelpunkt-Signatur) genutzt wurden. Auch Gehölzbestände (Wald- und Buschwerksignatur) sind auf den Terrassen im Gegensatz zu heute noch eher selten zu finden.

Genauere Angaben zur Gründungszeit von Gießübel sind nicht überliefert. Zwar feierte Gießübel seine 650-Jahrfeier im Jahr 1967, 1992 die 675- und 2017 die 700-Jahrfeier. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen muss man aber wohl von einer Ersterwähnung um 1340 ausgehen. *
Auch wenn die mittelhochdeutschen Namensursprünge für eine Einordnung in dieselbe Zeit sprechen, könnte der Besiedlungsbeginn durchaus auch früher liegen. In jedem Fall bot nicht die Landwirtschaft den Hauptgrund für die Siedlungsanlage; vielmehr dürften die Potenziale der ausgedehnten Waldungen (Holz, Holzkohle etc.) und die Hoffnung auf Bodenschätze wie Eisen, Kupfer oder Silber die ersten Siedler in das bis dahin noch weitgehend unbewohnte und unwirtliche Gebiet gelockt haben.

Keine andere kartographische Darstellung zeigt die Terrassenlandschaft so eindrücklich wie das auf Laservermessung beruhende Digitale Geländemodell. Im Falle des DGM2 wurden die Oberflächenformen mit einer Pixelgröße von 2 Metern aufgenommen. Dabei wurde die Lage und Höhe jedes Pixels ermittelt, so dass die Terrassenstufen im Bildausschnitt nicht nur deutlich hervorstechen, sondern nachträglich auch näherungsweise ausmessbar sind. Die räumliche Wirkung wird für den Betrachter verstärkt durch eine Schattenprojektion (fiktive Lichtquelle von oben links).

Das Infrarot-Orthofoto ist eine digitale Luftbildaufnahme, die von einer Flugzeugkamera in den Spektralfarben des Infrarotlichtes aufgenommen und dann bildtechnisch bearbeitet wurde. Jeder Aufnahmepunkt und jedes Objekt der Erdoberfläche wird deshalb in senkrechter Perspektive darstellt. Infrarot-Orthofotos haben den Vorteil, dass sie die Landschaft oft kontrastreicher wiedergeben als Orthofotos in den Farben des sichtbaren Lichtes, so dass sich auf ihnen Wälder, offene Flächen, Landnutzungen und andere Strukturen besser unterscheiden lassen.

Das hier ausgewählte Orthofoto zeigt die 5 Terrassenareale auf den Hängen von Sommerberg, Löffelberg, Queren- und Holzberg direkt oberhalb der dicht bebauten Siedlungslage. Geprägt werden sie heute durch extensive Schafweiden und Sukzessionsflächen, auf denen der Gehölzbestand bei ausbleibender Pflege von Jahr zu Jahr dichter wird. Die nicht terrassierten Flächen in den oberen Talabschnitten der Neubrunn, des Dachs- und des Rehbaches werden heute noch als Wiesen zur Heugewinnung genutzt.

Es gibt zwar nur vage Hinweise auf einen frühen Bergbau, so der Flurname „Löhlein“ (von „Löchlein“ abgeleitet) ebenso wie verwaschene Spuren in der Landschaft, die man heute noch unter Wald versteckt finden kann (Stollen, Grablöcher). Das Alter dieses Bergbaus ist aber nicht bekannt. Dass er erfolgreich war, ist kaum anzunehmen. So wurde zeitweilig am Querenberg oberhalb des Löhlein auf Kupfer und Silber gegraben. Bereits nach kurzer Zeit wurde die „Maria-Louisengrube“ aufgegeben. Auf der Urkatasterkarte von 1868 findet sich heute nur noch der Hinweis auf ein „verfallenes Silberbergwerk“.

Während sich der Abbau von Bodenschätzen nicht erfolgreich und dauerhaft etablieren konnte, boten die Schätze des Waldes Jahrhunderte hindurch eine solide Grundlage für eine bemerkenswert vielseitige Erwerbstätigkeit. Vor allem durch die Forstwirtschaft, die maschinelle und handwerkliche Holzverarbeitung und den Holzhandel wurde die Wirtschaft des Ortes geprägt. Eine Blüte erlebte noch im 19. Jh. das Büttnerhandwerk, also die Herstellung von Holzfässern, weitere holzverarbeitende Handwerke waren Geigenbauer, Löffler, Muldenhauer, Wagner, Drechsler, Felgenhauer, Pechsieder, Aschenbrenner, Pfählmacher (Rebpfähle), Schindelmacher, Tischler, Schreiner. * In der Konsequenz darf man sich vorstellen, dass fast in jeder Familie der Umgang mit der heimischen Holzressource erheblich zum Lebensunterhalt beitrug.

Historische Meilerstätten, besonders am Köhlersberg, weisen heute noch auf eine rege betriebene Köhlerei hin, ebenso wie der Flößteich im Norden des Ortes auf die lange betriebene Scheitholzflößerei über Neubrunn, Schleuse und Werra bis Meiningen. An größeren gewerblichen Betrieben gab es Schneidemühlen, später Sägewerke und eine Kistenfabrik. 3 Puppenfabriken ließen um die Jahrhundertwende in schlecht bezahlter Heimarbeit, auch durch Kinder, Puppenkörper produzieren, geformt aus Sägespänen und Holzmehl, bevor sie anschließend in der Fabrik als Abschluss noch einen Porzellankopf aufgesetzt bekamen. *

Die Glasverhüttung begann im Gegensatz zu den umliegenden Orten (Langenbach, Fehrenbach, Heubach, Unterneubrunn, Lichtenau, Altenfeld und Neustadt) in Gießübel erst 1921. Alle Rohstoffe (Sand, Soda, Kalk) wurden über den Bahnhof Unterneubrunn geliefert. Energieträger war Kohle, welche über Konverter vergast wurde. *

Zu einem besonders erfolgreichen Erwerbszweig entwickelte sich bis in die 1870er Jahre der Handel mit bayerisch-fränkischer Bierhefe und mit Butter aus dem Grabfeld und der Gegend von Coburg, an dem die Frauen des Ortes maßgeblich beteiligt waren. Sie brachten auf ihren weiten Pendelreisen zwischen Franken, Thüringen und Sachsen eine gewisse Weltoffenheit in das kleine Walddorf mit. *

Die Geologische Übersichtskarte zeigt die oberflächennah anstehenden Festgesteine in unterschiedlichen Farben und Signaturen. Die Kürzel in der Legende geben verschlüsselt auch Hinweise auf ihre Alterseinstufung. Fast die gesamte Westhälfte des Ortes mit dem Sommerberg, dem Löffelberg und dem Holzberg wird aus Schiefergesteinen aufgebaut. Das sind Umwandlungsgesteine, die einst aus feinkörnigen Sedimenten eines Flachmeeres zusammengepresst wurden. Als Ursache muss man sich die Plattentektonik vorstellen, d.h. den Zusammenstoß von Erdkrustenplatten, die in der Kollisionszone mit Gesteinspressungen und -auffaltungen verbunden war.  Dabei entstanden fein- bis grobblättrige Schiefer, die in der Landschaft heute infolge der Pressung meist senkrecht oder leicht schräg gestellt an die Erdoberfläche treten. Die Gesteine sind wahrscheinlich ca. 660 Mio. Jahre alt, d.h. sie stammen aus dem Präkambrium (Schönbrunn- und Altenfeld-Formation). Eine genauere Zeitbestimmung ist aus Mangel an Fossilien bisher nicht möglich. Die Schiefer sind vereinzelt von jüngeren nordwest-südöstlich verlaufenden Bruchlinien und Spaltensystemen durchzogen, welche mit Ganggesteinen (Trachyandesit, Rhyolith) aus dem Karbon und dem Perm (Rotliegendes) ausgefüllt sind.

Für die Anlage von Terrassen eignen sich am besten Gesteine, die kleinteilig verwittern und dann günstigenfalls auch eine feinkörnige, durchwurzelbare Verwitterungsdecke hervorbringen. Die Schiefergesteine stellen im Vergleich zu den weicheren Sand- und Tonsteinen des Buntsandsteinvorlandes sicher kein ideales Material für die Terrassenanlage dar, da sie an der Erdoberfläche stückig und plattig zerfallen und noch dazu das wenige Feinmaterial durch die Hanglage leicht abgespült wird. Doch eignen sie sich dafür besser als die härteren Porphyre aus der Karbonzeit (Lavagesteine), aus denen die Osthälfte des Kartenblattes aufgebaut ist. Die wenigen Terrassen auf dem Westhang des Querenberges finden sich überwiegend auf vergleichsweise weichen, feinkörnig verwitternden Tuffen und Tuffbrekzien, Auswurfgesteinen aus der Karbonzeit.

So wurde die Landwirtschaft, die noch bis ins 19. Jh. vielerorts in Thüringen die Haupterwerbsquelle war, in Gießübel von nahezu allen Familien nur im Nebenerwerb betrieben. Es gab keine repräsentativen Drei- und Vierseithöfe wie bei den wohlhabenden Lössbauern im Thüringer Becken oder im Altenburger Land, sondern das schmale Grundstück im Talgrund musste für ein fränkisches Einhaus (Fachwerkhaus) reichen, in dem Menschen, Vieh, Futter, Erntegut und Werkstatt unter einem Dach begrenzten Platz fanden. Mit der Zeit kamen dazu weitere, oft verschachtelte Anbauten, wie Ställe und Schuppen, soweit man auf der Grundstücksfläche die räumlichen Möglichkeiten dafür hatte. So blieb auf dem schmalen Talboden, wo sich die eng bebauten Hausgrundstücke, die Dorfstraße und der mäandrierende Bach zusammendrängten, nur noch ein wenig Platz für Gartenland. Für das Ackerland blieben die Talhänge übrig, soweit dies die Neigungs- und Bodenverhältnisse und der Terrassenbau zuließen.

Das digitale Geländemodell zeigt die markante Terrassenlandschaft am Sommerberg und die aktuelle Flurgliederung mit ihren Parzellengrenzen. Die Höhen der Stufenraine variieren angesichts der stark wechselnden Untergrundverhältnisse beträchtlich, je nachdem, ob das ehemalige Naturprofil flacher oder steiler war, weil härtere und weichere Lagen im Schiefergestein eine natürliche Stufung erzeugten, mit steilen Abschnitten in den härteren und mit flacheren Abschnitten in den weicheren Gesteinspartien. Die von Natur aus gegebene Profillinie wurde dann mit bescheidenen Mitteln per Hand und mit möglichst wenig Erdbewegungen weiter optimiert. In der Folge ergaben sich im ausgewählten Bildausschnitt Stufenhöhen zwischen 1,2 m und 6,1 m. Mit einer durchschnittlichen Stufenhöhe von 3,3 m stehen die Terrassen am Sommerberg im Thüringenvergleich ziemlich einzigartig da.

Was die Höhenbewältigung und die Steilheit der terrassierten Hänge betrifft, so bietet die Terrassenlandschaft Gießübel ein fast einzigartiges Beispiel in Thüringen.

Um die höchsten Terrassen zu erreichen, musste ein Anstieg von über 130 m bewältigt werden! Da es lange Zeit keine ausgebauten Wege gab, konnte jede Parzelle nur auf steilen und steinigen Fußpfaden erklommen werden. Sie sind heute noch zwischen den Parzellenstreifen erkennbar und im Laufe der Jahre durch Sturzbäche und das ständige Belaufen immer weiter eingetieft und damit unwegsamer geworden. An eine Befahrbarkeit mit Schubkarren, Leiterwagen o. ä. war auf dem Sommerberg nicht zu denken. Mist, Jauche und Erntegut, alles, was auf die Felder gebracht wurde und was von den Feldern kam, musste in Fässern und Kiepen mühsam hochgeschleppt bzw. heruntergetragen werden. Das war eine schwere Arbeit vor allem für die Frauen, die diese Wege teilweise 20mal am Tag mit einem Korb Mist auf dem Rücken bewältigen mussten. Allerdings gab es auch Felder, die mit Schubkarren und Leiterwagen zu erreichen waren, z. B. am Holzberg oder Löffelberg. *

Der dargestellte Flächenausschnitt am Sommerberg umfasst einen Raum von etwa 11 ha mit 98 Parzellen. Durchschnittlich sind sie 1126 m² groß. 2-3 solcher Flächen, genutzt als Acker oder Wiese, hatten für die Eigenversorgung einer Hausstelle zu reichen, also für den Hausstand von nicht selten 5 und mehr Personen und für das Vieh. *

Bei Überlagerung des Digitalen Geländemodells mit der aktuellen Flurkarte (ALKIS) fällt auf, dass die Terrassenstruktur und die Parzellierung bis auf wenige Ausnahmen linienscharf übereinstimmen, d. h. jede Terrasse oder Teile davon lassen sich im Liegenschaftsbuch bestimmten, oft unterschiedlichen Eigentümern und Eigentümerinnen zuordnen. Geländemodellierung (Terrassierung) und die Grundform der Parzellierung (Eigentumszuordnung) gehören also wahrscheinlich entwicklungsgeschichtlich zusammen. Dabei müssen die durchlaufenden Parallelstreifen, die von der Ortslage hinauf auf den Sommerberg ziehen, wohl zuerst dagewesen sein. Sie haben jeweils bestimmte Breiten der Terrassierungen vorgegeben. Inwieweit dann nachfolgend zuerst die Terrassen modelliert wurden oder zuerst die Zuteilung zu den unterschiedlichen Eigentümern erfolgte,  lässt sich nach dem derzeitigen Wissensstand nicht sagen.

Offensichtlich haben dann aber die Erbteilungen nachfolgender Jahrhunderte die Urparzellen weiter aufgesplittert. Das lässt sich jedenfalls aus dem heutigen Flurbild vermuten, da einige Terrassen heute von 2, 3 oder sogar mehreren Parzellen unterschiedlicher Eigentümer besetzt sind. Ohne genauere historische Fluranalysen lässt sich aber nicht konkretisieren, wann und durch welche Erbfolgen es zu dieser Aufsplitterung gekommen ist. Jedenfalls war sie auf der Urliegenschaftskarte bereits präsent und hat sich seitdem noch für weitere anderthalb Jahrhunderte bis in die Gegenwart erhalten und vertieft. Flurbereinigungen hat es auf den Gießübler Terrassen nicht gegeben.

Wann die Terrassierung erfolgte, ist nicht bekannt. Es gibt keine urkundlichen und anderen schriftlichen Hinweise darauf, auch nicht ob die Land-schaftsbauwerke durch ein obrigkeitliches Diktat, durch eine kollektive Kraftanstrengung der Dorfgemeinschaft oder durch individuelle Einzel-entscheidungen angelegt wurden. Vieles spricht jedoch dafür, die Terrassierung als gemeinschaftliches Werk aller Dorfgenossen anzusehen, das bereits zeitnah nach der Siedlungsgründung vorgenommen wurde. Dafür spricht, dass noch um 1868 (und auch heute noch) sehr viele Familien der Dorfgemeinschaft Eigentumsanteile an den Terrassenparzellen besaßen. Das Terrassenwerk wurde also offensichtlich von vielen Beteiligten getragen und genutzt.  Für einen dorfgemeinschaftlichen oder hoheitlichen Impuls spricht aber auch die offenbar systematische Grundstruktur am Sommerberg mit ihren hangaufwärtsziehenden Langstreifen, in die sich die Terrassenstufen jeweils regelhaft einordnen. Dieser Sachverhalt einer originären Streifenflur lässt auf einen vorausgehenden Planungsakt schließen.

Bevor man mit der Terrassierung begann, lag also schon ein Plan für die Parzellierung vor, der auch die Modellierbarkeit des Geländes berücksich-tigen musste. Die Steilheit und Widerstandsfähigkeit des Hangprofils und die Verfügbarkeit von Feinboden entschieden dann, in welchen Niveaus man die Terrassen anlegen konnte, wie groß und wie stark geneigt die ackerfähigen Oberflächen und wie hoch ihre Stufenraine zu sein hatten.

Der Schieferrücken des Löffelberges fällt im Bildausschnitt mit etwa 40 m nach Norden hin ab; nach Westen geht er in das Tal des Dachsbaches über. In der Folge sind die Stufen hier oft L-förmig angeordnet mit Sprunghöhen von nur wenigen Dezimetern bis maximal 1 m. Die Terrassen sind auch hier wie auf dem Sommerberg von stückigem Blockwerk durchsetzt, das vor allem in den Lesesteinrangen (Terrassenstufen) zu Tage tritt. Mit Ackerzahlen von nur etwa 10 Punkten eignen sich die ehemaligen Hackbaustandorte heute nur noch für die Beweidung oder für die Schnittwiesennutzung. Mit durchschnittlichen Flächengrößen von rd. 1450 m² sind die Parzellen aufgrund flacherer Hangneigungen etwas größer als auf dem steileren Sommerberg.

Zu den spannenden Fragen im Fallbeispiel Gießübel gehört auch, wie die Terrassen in früheren Zeiten genutzt wurden, ob sie tatsächlich beackert und wenn ja, wie sie bestellt und welche Ackerfrüchte angebaut wurden. Interessant ist zudem, wie die Terrassenkultur in das alltägliche Leben der Menschen eingebunden war. Über all dies bekommen wir interessante Antworten aus einer über hundertjährigen Ortschronik und aus zahlreichen historischen Bildern, die Gunter Heß gesammelt hat und die wir nachfolgend näher betrachten wollen.

Ernst Dahinten (1906), Autor der historischen Ortschronik und früherer Lehrer der hiesigen Schule, wusste folgendes zu berichten * :

„Doch sieht man an den niederen Abhängen auch Äcker besonders am Sommerberg, Holzberg und Löffelberg. Diese Äcker sind eingebettet in breiten Rainen [Terrassenstufen, d. Verf.], die dieselben vor Abschwemmungen behüten sollen. Der Anbau dieser steilen Äcker wird den Leuten sehr sauer, indem sie den Mist dorthin mit Tragekörben befördern und auch die Produkte des Feldes auf dem Rücken nach Hause tragen müssen. Angebaut werden zum großen Teil Kartoffeln und Hafer, ferner gedeihen auch etwas Sommerkorn und Rüben.“

Wie der Text eindrucksvoll schildert, waren Maschinen auf den steilen Hängen nicht einsetzbar. In den 50er Jahren, als hier immer noch Ackerbau betrieben wurde, war an einen Einsatz von Traktoren in diesen Lagen nicht zu denken, da die geeigneten Zufahrtswege fehlten. Auch der von Pferden gezogene schwere Eisenpflug war nicht verwendbar, weil die Böden zu steinig oder zu flachgründig und die Hangneigungen zu groß waren. Stattdessen wurde der steinige Boden in langwieriger und schweißtreibender Handarbeit mit der Hacke gelockert, bevor die Fläche bestellt werden konnte, ohne Maschinenhilfe. Übrigens weist die aktuelle amtliche Bodenschätzung die Terrassenflächen am Sommerberg immer noch als Hackbau-standorte aus, auch wenn sie mit Ackerzahlen von nur 8-15 von maximal erreichbaren 100 (!) Punkten zu den extremen Grenzertragsstandorten gehören. So war es absehbar, dass die Terrassenäcker spätestens in den 1960er Jahren zunehmend in Sommerweiden überführt wurden, als immer mehr Frauen in der Industrie Arbeit fanden, denn zuvor trugen die Frauen des Dorfes bis auf Aussaat und Ernte die Hauptlast der Landwirtschaft. Zunächst kamen Jungrinder aus der LPG Dingsleben nach Gießübel, 1972 wurde die Rinderweide eingestellt. Später kamen dann Schafe nach Gießübel. Heute beweidet die Schäferei Kieser aus Eisfeld mit einer Herde von über 1000 Schafen regelmäßig die Gießübler Flur. *

Liegenschafts- oder Flurkarten bilden Flurstücke (Grundstücke und ihre Grenzen), Gebäude, Straßen und Flurnamen ab. Sie vermitteln zusammen mit den dazugehörigen Flurbüchern einen Eindruck von den Eigentumsverhältnissen in ihrer jeweiligen Zeit. Die Ur-Liegenschaftskarte ist die Ausgangskarte unserer heutigen Flurkarten. Sie spiegelt recht gut den Besitzstand in der vorindustriellen Zeit wider, d. h. die Zeit vor den sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen in der Landwirtschaft, die die Besitzverhältnisse und auch das Bild der Kulturlandschaft tiefgreifend verändert haben. Im Gegensatz zu anderen Gebieten in Thüringen hat es in Gießübel keine Separation und keine Flurbereinigungen gegeben, so dass das Flurbild des frühen 19. Jahrhunderts hier bis heute noch weitgehend erhalten ist.

Die Karte zeigt nur einen Ausschnitt der gesamten Gemarkung. Sie lässt aber sehr klar die kleinbäuerliche Prägung des Dorfes erkennen. Kleinbesitz war die Regel. Die meisten Hausstände besaßen auf den Terrassenäckern nur 1-3 Parzellen (farblos), nur wenige 4-6. Hinzu kamen Tal- und Bergwiesen für die Heu- und Weidenutzung sowie verschiedene Nutzungsrechte in den obrigkeitlichen Wäldern. Aber auch kleine private Waldflächen waren und sind bis heute Eigentum der Alteingesessenen.

Flurkarten wie die vorliegende wurden nicht gedruckt und veröffentlicht, sondern liegen als Hand gezeichnete Originale wie auch die Flurbücher in den regionalen Archiven und bei den Katasterbehörden. Ausgewählte Flurkarten sind in digitalisierter Form im Geoportal Thüringen kostenlos verfügbar. Der moderne Nachfolger der historischen Flurkarten und der dazugehörigen analogen Flurbücher ist das digitale Automatisierte Liegenschaftskataster-Informationssystem (ALKIS).

Gunter Heß lebt seit gut 7 Jahrzehnten in Gießübel. Er hat seit seiner Kindheit das Leben und Geschehen im Ort hautnah miterlebt und dieses als Zeitzeuge und Autor in zahlreichen heimatkundlichen Veröffentlichungen und Bildbroschüren dokumentiert. Schon sein Vater hat als Fotograf und Chronist über Jahrzehnte den Alltag und besondere Ereignisse im Ort mit der Fotokamera begleitet und in beeindruckenden Aufnahmen festgehalten. Mit der Zeit ist so ein umfangreiches Dokumentenarchiv entstanden mit vielen aus heutiger Sicht unschätzbar wertvollen Fotos von Landschaften, Personen und Alltagsszenen, die meisten noch in Schwarzweiß, dazu unzählige gesammelte handschriftliche Notizen und Zeitungsausschnitte. Gunter Heß ist der ideale Ansprechpartner, um anhand der alten Bilder und anhand von Vororteindrücken an Originalschauplätzen die persönlichen Erinnerungen und die Geschichten mit und auf den Terrassen wieder lebendig werden zu lassen.

Renate und Gunter Heß (2022)

Ida Voigt (ca. 60 Jahre alt) und Liese Eichhorn (ca. 40 Jahre alt) tragen
Mist auf ihren Acker auf dem Sommerberg
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Ida düngt ihre Wiese am Waldesrand auf dem Holzberg mit Mist (Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Aufstieg zum Sommerberg 
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Elfriede trägt ihr Heu nach Hause
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Ilga beim Getreidetransport (Hafer) vom Sommerberg
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Kartoffel legen im Nachbarort Oberneubrunn mit 1 PS (1952)

Feldbewirtschaftung an den Steiläckern auf dem
Sommerberg in Handarbeit, ohne Technik
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Kartoffelernte auf magerem Boden
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Kartoffelernte auf ausgeruhtem Boden im Rodeland
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

1. Pellkartoffeln

meist mit eingemachten Salzheringen oder Leber- bzw. Rotwurst, dazu Butter und Senf

4. Schnippelsuppe

Zutaten wie 3., aber nicht püriert sondern in Scheiben

7. Bratkartoffeln

Kartoffelstücke in Fett gebraten, Ei untergerührt...

10. Kartoffelstampf

„Zamet“, gekochte Kartoffeln püriert, mit Milch und Butter verrührt

2. Salzkartoffeln

(Kümmel, Knoblauch), dazu Gemüse und/oder Soßen u.v.a. mehr; auch mit ausgelassenem Speck, Rührei und Salat (Grüner, Enivien, Löwenzahn…)

5. Saure Schnippelsuppe

Kartoffelschnippel mit viel Zwiebeln und Essig gekocht

8. Rohe Klöße

Die echten Thüringer: aus 1/3 gekochten und 2/3 geriebenen und ausgepressten Kartoffeln, gebrüht, mit in Butter gebratenen Semmelwürfeln („Weckbröckela“) gefüllt und in heißes Wasser eingelegt

11. „Flockzamet“

wie 10 + Stärkemehl, in kleinen Portionen mit viel Fett angerichtet

3. Dünne Suppe

Kartoffelsuppe mit Möhren, Kohlrabi je nach Angebot, ausgelassener Speck oder Zwiebeln, Petersilie oder Brennnesseln – viele Varianten; meist das Samstaggericht

6. Kartoffelsalat

Pellkartoffelstücke,
gekochte Möhrenstücke und Eier, Gewürzgurkenstücke u.ä. in Marinade (Senf, Sauerrahm, rohes Ei usw.), nach Geschmack auch mit ausgelassenen Schweinespeck… viele Varianten; beliebtes Festessen z. B. am Heiligabend

9. Fixe Klöße

„Faule-Weiber-Klöss", gekochte Kartoffeln püriert, Zugabe von Stärkemehl, mit kochendem Wasser verrührt, Füllung wie 8.

12. Kartoffelpuffer

gebratener Kartoffelrieb mit Zwiebeln, Mehl und Eiern

Mähkolonne
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Die Hebamme Gottliebe Voigt beim Heutransport
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Heidrun (heute 74 Jahre alt) rupft mit ihrer Großmutter Waldgras für die Ziegen
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Ziegenherde und Urlauber
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Fünflingsgeburten bei Ziegen war eine Seltenheit
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Kuhgeschirr des Schmieds Ernst mit Frau
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Der Hufschmied beschlägt eine Kuh
(Aufnahmezeitraum: 1955-1965)

Versuch der Beweidung mit Milchkühen in den 60ern 

Beweidung mit Jungkühen der LPG Dingsleben
unter Regie der Sennerin Hedwig
(um 1970)

Jungrinder Anfang der 70er auf dem Löffelberg 

Panoramaaufnahme 1920er Jahre und 2022 mit Ortslage und Sommerberg im Vergleich

Bevölkerungsentwicklung  50 Jahre Gießübel (G. Heß 2021)

Literatur

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